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25.10.2016 Kategorie: Markus-Musik, Markus-Gemeinde

Eigentlich ist es doch ganz schön...

Gedanken zum Älterwerden

Sie will nicht mehr leben. Und sagt das. Neunzig Jahre ist sie, sieht aber aus wie achtzig. Feine Haut, elegante Frisur, wie aus dem Ei gepellt. Das Laufen, sagt sie, die Luft. Seit vierzig Jahren ist sie Witwe. Der Mann starb von einer Minute zur anderen. Arbeiten lenkte mich ab, sagt sie. Aber jetzt – viele Tage sind gleich. Sonntags in die Kirche geht auch nicht mehr. Das Laufen, die Luft. Zur Bank und zum Einkaufen fährt sie mit dem Bus. Man sieht ihr nichts an. Aber sie will nicht mehr. Wenn doch der Herrgott ein Einsehen hätte, sagt sie. Soll man ihr das ausreden? Nein, soll man nicht. Jeder hat ein Recht auf seine Empfindungen. Das Sorgen und Putzen, das Einkaufen und Waschen. Alles zu viel. Sie hat das Recht, so zu fühlen. Sie darf den Herrgott bitten: Vergiss mich nicht; hol mich zu dir. Und zum Ehemann. Wieder bei dem sein, der ihr Liebster war, wünscht sie auch. Das redet man ihr nicht aus. Es geht auch nicht. Besser hört man einfach zu und achtet auf die Gefühle hinter den Worten. Die wollen ja eigentlich raus. Alleinsein, die Weltmüdigkeit. Das muss raus. Ist ja niemand in der Wohnung, der das mal hört. Dann eben auf der Straße. Die alte Frau putzt sich die Nase. Man hört den schweren Atem der Traurigkeit. Nachher ist sie allein. Jetzt hört jemand zu. So schön war das mit meinem Mann, sagt sie. Leider ohne Kinder. Sonst nur Glück. Sie strahlt ein bisschen. Mein Nachbar fährt mich zum Friedhof. Seine Mutter liegt dort. Überhaupt die Nachbarn, sagt sie und zählt alle auf. Früher war mehr Streit, heute mögen wir uns. So ein Glück, sagt sie und sieht ihr Leben. Ihr ganzes Leben. Nicht nur die Traurigkeit. Lange schaut sie still, vergisst Haltestelle und Zuhörer. Eigentlich, sagt sie dann und holt schwer Luft, eigentlich ging es mir gut im Leben. Eigentlich ist es doch ganz schön.
Alte Frau

Bild: Rainer Sturm | pixelio.de